Vladimir Nabokov

NABOKV-L post 0005530, Thu, 12 Oct 2000 13:57:16 -0700

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. Erofeev's pick for BOOK of the CENTURY
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EDITOR's NOTE. Writer-Critic Victor Erofeev wasmong those Die ZEIT asked for
their choise of Book of the Century. His essay follows.
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Nr. 45/1999







Mein Jahrhundertbuch (45)
Viktor Jerofejew: "Lolita" von Vladimir Nabokov


Das 20. Jahrhundert wird wohl als das Jahrhundert der Verzweiflung in die
Literaturgeschichte eingehen. Die Schriftsteller rannten um eine ganze
Palette von Ideen wie beispielsweise den Tod Gottes oder den Untergang des
Abendlandes, durch politischen Zynismus, Kriege und ideologische Utopien.
Die besten nahmen an diesem Wettlauf teil: der stark kurzsichtige Joyce, der
eulenäugige Kafka, der Faschist Céline, der Antifaschist Thomas Mann, eine
Reihe von hysterischen Russen, der ĂĽberdrehte Henry Miller, der betont
schmutzige Bukowski, der blinde Borges - man kann gar nicht alle aufzählen.
Das hat den Leser natĂĽrlich verdorben. Man durfte ihm nur noch "Schwarz auf
Schwarz" servieren, andere Quadrate erkannte er nicht mehr an. SchlieĂźlich
kotzten alle nur noch eine schwarze Masse, und das nannte man das Ende der
Literatur.

Auf diesen schwarzen Hintergrund setzte Vladimir Nabokov in Sperma seine
Unterschrift. Sein bester Roman Lolita hinterlieĂź eine Schleimspur des
Skandals, ähnlich wie Flauberts Madame Bovary. Den Skandal entkorkte Nabokov
für eine breite Leserschaft. Hätte es keinen Skandal gegeben, würde Nabokov
möglicherweise bis heute lediglich von einem Grüppchen von Kennern
degustiert. Der Mechanismus literarischen Erfolgs wird nicht so sehr in
Buchverlagen als vielmehr im Himmel in Gang gesetzt. Nabokov strebte in den
Kreis der Auserwählten und fand dann, wenn auch verdientermaßen, auf
ziemlich plumpe Weise Einlass: durch die TĂĽr der Kinderpornografie, deren er
sogleich nach Erscheinen der englischsprachigen Fassung des Buches
bezichtigt wurde, das im noch puritanischen Jahr 1955 in Paris und den USA
insgesamt viermal abgelehnt worden war.

Zuvor hatte Nabokov einige Taten vollbracht, die Beachtung verdienen. In
seiner frühen Jugend ein Nachkömmling des Symbolismus, riss er später den
religiösen Dachstuhl des symbolistischen Romans nieder und ästhetisierte
damit aufs Ă„uĂźerste den Lebensraum in der Inszenierung seiner metaphysisch
hoffnungslosen Prosa, womit er den Nerv des Jahrhunderts traf.

Er machte sich in vollem MaĂźe die bitteren FrĂĽchte der Russischen Revolution
zunutze. Dieser junge Herr, der aus dem paradiesischen Adelsnest in die
Emigration von Berlin-Paris-Amerika gefallen war, fĂĽhrte in seinen BĂĽchern
das Thema der Vertreibung nicht als nationale Katastrophe auf, wie es fast
alle seine Landsleute auf stupide Weise taten, sondern als existenzielles
Drama, womit er wiederum den Nerv des Jahrhunderts traf. Lange suchte er
nach der Formel für einen radikalen ästhetischen Nonkonformismus,
unzufrieden mit allem, was er ringsum sah. Fürs Alleinsein im Leben wählte
er das Schmetterlingsnetz, für das in der Literatur ein vulgäres Nymphchen.
Sie alle mögen vollbusige, dickärschige so genannte schöne Frauen, und ich
mag eine kriminell junge Fotze! - so lautete die Devise der Liebesgeschichte
in Lolita, deren Fortsetzung man nur in der Gefängniszelle suchen kann.

Die erotische Verbindung des reifen Spermosaurus kosmopolitischen Typs
Humbert Humbert zu Lolita erhält die Bedeutung einer weitreichenden,
vielschichtigen Metapher, die den Roman erfasst wie ein Feuer lodernder
Holzscheite im Kamin. Hier gibt es die Sehnsucht nach den juvenilen Quellen
der im 20. Jahrhundert abgenutzten Kultur, nach den Zeiten Dantes und
Petrarcas, welche im Roman in Form von Verehrern der von ihnen besungenen
Nymphchen vorkommen. Hier gibt es auĂźerdem die sehr viel offensichtlichere
Konfrontation des europahaften H. H. und des jungen Amerika vor dem
Hintergrund eines vom Rauschen der Abflussrohre erfĂĽllten Motelzimmers.

Und hier gibt es schließlich das Eingeständnis des fünfzigjährigen Autors,
wie niederträchtig doch die Zeit arbeitet, deren Flüchtigkeit die
zwölfjährige Schülerin unerbittlich altern lässt und in eine banale
Schönheit verwandelt. In jedem Fall haben H. H. und Lolita keine andere
Zukunft als die Katastrophe.

Das Wichtigste jedoch an Lolita ist die Metapher der Erschöpfung und des
Verfalls der Liebe, der Abschluss also des Hauptthemas im europäischen
Roman. Anders gesagt, dies ist ein Roman ĂĽber den Verfall des Romans. Als
einzige Oase der Liebe in dieser Welt erweist sich eine kleine Liebhaberin
von Sonntagsheftchen mit zartem Flaum auf der Aprikosenscham, eine frĂĽhreife
Jägerin nach billigen Vergnügungen, die letzten Endes den pathetischen H. H.
verlässt und mit dem kitschigen Modedramatiker Quilty durchbrennt.

Wie armselig auch immer das Bild des irdischen Paradieses in Lolita sein
mag, es stößt den Nabokovschen Helden ab und macht aus dem perversen
Ă„stheten einen tragischen Idioten, den keiner liebt. Die Szene des Mordes an
Quilty in der geschmacklosen Dekoration seines amerikanischen Hauses durch
den vor Eifersucht wild gewordenen H. H. wurde zur Vorlage und zum Kanon
aller folgenden postmodernen Horrorszenen, in denen sich Blut und Humor,
Tod, Säufergejammer und Sentenzen über den Sinn des Lebens vermischen.

Aber die Verluste des Helden sind die Gewinne des Autors. Das verlorene
Paradies seiner Kindheit gewann Nabokov im schöpferischen Akt selbst, der
eine sinnliche Faktur der Prosa entstehen lieĂź, wo das Knirschen von Kies,
ein durchs Laub fallender Sonnenstrahl oder eine kindliche Erkältung
wichtiger ist als alle groĂźen Ideen. Der beste Nabokov - das ist eine
Verschwörung der fünf Sinne. Mehr als alle anderen Schriftsteller des 20.
Jahrhunderts hasste er das soziale Pronomen "wir", und er widersetzte sich
ihm in Prosa und Leben.

Er ist ein guter Lehrer eines absolut stoischen Widerstands. Um nicht
erdrückt zu werden, legte er sich schriftstellerisches Können zu und prahlte
damit wie mit einer unbesiegbaren Waffe. Das war ein Fehler - die eiserne
Macht ĂĽber das Wort hat er teuer bezahlt mit der Liebe zum Verfassen von
schwachen Versen, idiotischen, in Lolita reichlich vorkommenden Wortspielen
und schlieĂźlich mit der mich deprimierenden schriftstellerischen Eitelkeit
des Snobs. Die reine Metapher der Verzweiflung indes, entdeckt in Lolita,
hat das 20. Jahrhundert in ihrem Netz gefangen.

Aus dem Russischen Beate Rausch

· Vladimir Nabokov: Lolita Roman; aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson
u. a.; rororo 22543, Rowohlt Verlag, Reinbek 1999; 528 S., 16,90 DM





























© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 45
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