Vladimir Nabokov

NABOKV-L post 0009460, Fri, 19 Mar 2004 14:28:46 -0800

Subject
An early German "Lolita"
Date
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MessageEDNOTE. Below is the full text of German journalist Michael Maar's article about a recently discovered 1916 tale by one Heinz von Lichberg with title "Lolita" and some plot similarities with the more famous later novel. SO far as I know, no Nabokov expert has as yet examined the earlier tale and can only note that narratives, like lives, inevitably have echoing elements.

----- Original Message -----
From: Kuzmanovich, Zoran
To: Donald Barton Johnson
Sent: Friday, March 19, 2004 5:36 AM
Subject:


Was wußte Nabokov?
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2004, Nr. 67 / Seite 37

Lolita gab es schon - ihr unbekannter Schöpfer war der Rundfunkreporter, der den Deutschen Hitlers Machtergreifung verkĂŒndete / Von Michael Maar

Kommt uns das nicht bekannt vor? Ein kultivierter Mann mittleren Alters blickt auf die Geschichte seiner amour fou zurĂŒck. Sie beginnt damit, daß er ins Ausland reist, wo er sich in einer Pension einmietet. Als sein Blick die Tochter des Hauses trifft, ist es um ihn geschehen. Sie ist ein blutjunges MĂ€dchen, dessen Reizen er augenblicklich verfĂ€llt. Ungeachtet ihres zarten Alters hat er mit ihr eine intime Beziehung. Am Ende stirbt sie, und der ErzĂ€hler bleibt, fĂŒr immer von ihr gezeichnet, alleine zurĂŒck. Der Name des MĂ€dchens gibt der Geschichte den Titel - Lolita. Wir kennen das MĂ€dchen und seine Geschichte, und wir kennen deren Titel. Auch den Autor meinen wir zu kennen, doch da freilich tĂ€uschen wir uns. Sein Name ist Heinz von Lichberg.

Lichbergs "Lolita" ist eine achtzehn Seiten lange ErzĂ€hlung, die im Jahr 1916 erschien - vierzig Jahre vor ihrem berĂŒhmten Namenszwilling. Sie ist das Werk eines fĂŒnfundzwanzigjĂ€hrigen deutschen Schriftstellers, der so gut wie keine Spuren in den Literaturarchiven hinterlassen hat. Auch bibliographisch hat sie sich gut getarnt: "Lolita" versteckt sich in einem ErzĂ€hlungenband mit dem Titel "Die verfluchte Gioconda". Ihr Verfasser, der aus hessischem Uradel stammte und eigentlich Heinz von Eschwege hieß, war im Ersten Weltkrieg Leutnant und arbeitete spĂ€ter in Berlin als Journalist fĂŒr die Zeitungen des Scherl-Verlags. PopulĂ€r wurde Heinz von Lichberg, als er 1929 ĂŒber den Transatlantikflug mit dem Zeppelin berichtete. Das Dokument dieser Reise wurde unter dem Titel "Zeppelin fĂ€hrt um die Welt" erfolgreich unters stolze Volk gebracht. Bei dieser Fahrt kam Heinz von Lichberg auch nach New York - ein gutes Jahrzehnt vor Vladimir Nabokov.

Es ist bekannt und bleibt doch eine merkwĂŒrdige Vorstellung, daß der erst spĂ€ter in Amerika Eingetroffene um ein Haar eine entscheidende Dummheit begangen hĂ€tte. Im Nachwort zu dem Roman, der ihm Weltruhm und finanzielle UnabhĂ€ngigkeit schenken sollte, schreibt Nabokov, daß er öfter in Versuchung war, das entstehende Werk zu verbrennen. Was wĂ€re gewesen, wenn ihn seine Frau nicht davon abgehalten hĂ€tte? Nabokov wĂ€re als mittelloser writer's writer gestorben. Google wĂŒrde heute nicht vierzehn Millionen EintrĂ€ge fĂŒr den Titel herausspucken. Lolita, Texas, wĂŒrde nicht erwĂ€gen, einen anderen Ortsnamen zu beantragen. Lolita hĂ€tte nicht die Karriere vom Namen zum Begriff gemacht. Die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wĂ€re um eines ihrer grandiosesten Werke Ă€rmer. Und dennoch wĂ€re eine gedruckte "Lolita" in der Welt.

Wenn man sie heute liest und mit dem zum GlĂŒck vor den Flammen bewahrten Roman vergleicht, stellt sich ein leichtes GefĂŒhl der Unwirklichkeit und des DĂ©jĂ -vu ein. Das Herz von Lichbergs Geschichte bildet eine Reise nach Spanien. Der namenlose Ich-ErzĂ€hler mietet sich in Alicante in einer Pension am Meer ein. Er plant nicht mehr als einen geruhsamen Urlaub. Dann aber geschieht es. Nach kleiner Verzögerung kommt es zu jenem fatalen Blick, bei dem man unweigerlich an die spĂ€tere "Lolita" denken muß. Dort tritt der Ich-ErzĂ€hler Humbert Humbert eine Reise an, um in der NĂ€he eines Sees ungestört arbeiten zu können. In dem StĂ€dtchen Ramsdale spricht er bei der Zimmervermieterin Charlotte Haze vor, die er ebenso unattraktiv findet wie ihre Wohnung. Innerlich ist er schon zur Abreise entschlossen, da sieht er das unsterbliche MĂ€dchen mit kastanienbraunem Haar, die Wiedergeburt seiner ersten kindlichen Liebe am Meer. Der eine Blick genĂŒgt, und er bleibt. Schon bei Lichbergs Ich-ErzĂ€hler genĂŒgt ein Blick: "Der freundliche, gesprĂ€chige Wirt wies mir ein Zimmer mit wundervoller Aussicht auf das Meer zu und es stand mir nichts im Wege, eine Woche ungestörter Schönheit zu genießen. Bis ich am zweiten Tage Lolita sah, Severos Tochter. Sie war blutjung nach unseren nordischen Begriffen und hatte zu ihren umschatteten, sĂŒdlichen Augen eine seltene, rotgoldige Haarfarbe. Ihr Körper war knabenhaft schlank und geschmeidig und ihre Stimme voll und dunkel. Aber nicht ihre Schönheit allein fesselte mich - es ging ein seltsames RĂ€tsel von ihr aus, das mich in den MondnĂ€chten oft fragend ĂŒberkam."

Wie Humbert ist unser ErzĂ€hler sofort gebannt und verwirft fortan jeden Gedanken an Abreise. Und wie im Fall des angenehm ĂŒberraschten Humbert ist es schließlich Lolita, die den Mann verfĂŒhrt, nicht umgekehrt. Lichberg schildert das VerhĂ€ltnis nicht unverblĂŒmt, aber die Ellipsen und Umschreibungen lassen den Leser ĂŒber die faits bruts kaum im unklaren. Nach heißen Tagen und schwermĂŒtigen NĂ€chten kommt endlich "der Abend unvergeßlichster Wirklichkeit und mĂ€rchenhafter VertrĂ€umtheit, da Lolita auf meinem Balkon saß, wie so oft, und mir leise Lieder sang. Aber plötzlich ließ sie die Gitarre zu Boden gleiten und trat mit zögernden Schritten zu mir an das GelĂ€nder. Und wĂ€hrend ihre Augen den flimmernden Mondschein im Wasser suchten, schlang sie ihre zitternden Aermchen wie ein bettelndes Kind um meinen Hals, lehnte ihren Kopf an meine Brust und begann haltlos zu schluchzen. In ihren Augen standen TrĂ€nen, aber ihr sĂŒĂŸer Mund lachte. Das Wunder war geschehen. ,Du bist so stark', flĂŒsterte sie. Tage und NĂ€chte kamen und gingen vorbei - das Mysterium der Schönheit hielt sie in ewig gleichbleibender, singender Gelassenheit umsponnen."

Das ist so wenig explizit, wie es der Zeit entspricht, und so eindeutig, wie sie es erlaubt. Sexuell anstĂ¶ĂŸig werden die Tage und NĂ€chte des MĂ€dchenliebhabers erst bei Nabokov, der sein Manuskript zunĂ€chst anonym veröffentlichen wollte und spĂ€ter nur knapp der Zensur entkam. Die Übereinstimmung von Handlungskern, ErzĂ€hlperspektive und Namenswahl ist gleichwohl frappierend. Leider gibt es, wie Van Veen in "Ada" bemerkt, kein logisches Gesetz, das uns verraten wĂŒrde, ab wann eine bestimmte Anzahl von Koinzidenzen aufhört, Zufall zu sein. Mangels dieses Gesetzes ist die sich aufdrĂ€ngende Frage auch nicht zu beantworten, freilich noch weniger abzuweisen: Kann Vladimir Nabokov, der Autor der einen unsterblichen "Lolita", des stolzen schwarzen Schwans unter den Romanen der Moderne, das hĂ€ĂŸliche Entlein seines VorgĂ€ngers gekannt haben? Kann er von ihm - und sei es unbewußt, denn ein bewußtes Zitat hĂ€tte er vermutlich vermieden - angeregt worden sein?

Den Weg des Autors hĂ€tte er jedenfalls leicht kreuzen können. Heinz von Lichberg lebte fĂŒnfzehn Jahre lang im Berliner SĂŒdwesten praktisch in Nabokovs Nachbarschaft. Nabokov war 1922 nach Berlin gezogen und blieb dort, wie er selbst wohl am wenigsten erwartet hĂ€tte, bis 1937. In diesen fĂŒnfzehn Berliner Jahren verlobte er sich mit einer Deutschen, von der er sich wieder trennte; er lernte VĂ©ra kennen, die Frau seines Lebens, und er wurde Sirin - der bedeutendste russische Autor der jungen Generation. Von den Deutschen allerdings hielt er nicht viel, und wenn man ihn spĂ€ter auf seine Deutschkenntnisse ansprach, blieb er immer reserviert. HĂ€tte er Lichbergs "Lolita" ĂŒberhaupt lesen können?

Im Jahr 1947 gab er in dem Antrag auf ein Guggenheim-Stipendium "a fair knowledge of German" an; und das war nicht gemogelt. Nabokov hat nicht nur Hofmannsthal geschĂ€tzt, Kafka verehrt, etliche Gedichte Heines und die "Zueignung" aus Goethes Faust ins Russische ĂŒbersetzt. Auch Entlegeneres fiel in sein Blickfeld; selbst Leonhard Franks heute vergessenem Roman "Bruder und Schwester" von 1929, der als mögliche Quelle fĂŒr "Ada" gehandelt wird, gibt er in einer ErzĂ€hlung einen kleinen Seitenhieb. Wer Leonhard Frank zur Kenntnis nehmen konnte, hĂ€tte auch auf einen Heinz von Lichberg stoßen können.

Als Feuilletonist des "Berliner Tages-Anzeigers" war Lichberg in den fĂŒnfzehn Jahren, in denen Nabokov in Berlin lebte, stĂ€ndig prĂ€sent. Angenommen nun, einer der ZufĂ€lle, an denen das Leben reicher ist, als es Romane sein dĂŒrfen, hĂ€tte ihm dessen "Gioconda"-Band in die HĂ€nde gespielt: WĂ€re das Thema "Lolitas" bei Nabokov schon damals auf fruchtbaren Boden gefallen? Dies allerdings. Schon um 1934, also etwa zwanzig Jahre bevor er seinen Roman abschloß, hatte er dessen ersten Entwurf einer Nebenfigur der "Gabe" in den Mund gelegt. FĂŒnf Jahre spĂ€ter schrieb er in Paris den Kurzroman "Der Zauberer", in dem sich die Keimzelle "Lolitas" schon zum fertigen Embryonen entwickelt hatte. Weitere zehn Jahre spĂ€ter begann er mit der Niederschrift des Romans, den er allen Anfechtungen zum Trotz im FrĂŒhjahr 1954 glĂŒcklich beenden konnte. Die Vorgeschichte Lolitas reicht aber noch weiter zurĂŒck.

Nicht erst in der "Gabe" taucht das junge, noch ungeformte MĂ€dchen auf, dessen Gang einen gestandenen Mann verrĂŒckt machen kann. Schon in der kurzen ErzĂ€hlung "Ein MĂ€rchen" von 1926 schuf Nabokov eine Kindfrau, die mit ihren "ganz, ganz leicht wiegenden HĂŒften" dem Helden den Kopf verdreht. Diese verfĂŒhrerische VierzehnjĂ€hrige mit ihren viel zu glĂ€nzenden Augen ist die erste einer Kette von PrĂ€-Lolitas, die von nun an nicht mehr abreißen wird. Sie ist noch namenlos, aber schon ganz die fatale nymphet, als die sie Nabokov spĂ€ter ausdrĂŒcklich bezeichnen wird. Gleich bei ihrem ersten Auftritt im Werk zeigt sie ihre dĂ€monisch-phantasmagorischen ZĂŒge, auf die der junge Autor auch durch eine literarische Anspielung verweist. Das Finale seines MĂ€rchens spielt in der "Hoffmann-Straße". Von diesem literarischen Signalmast zieht sich ein weiterer seidener Faden hinĂŒber zur deutschen "Lolita". Bei Lichberg heißt gleich der erste Satz: "Irgend jemand warf den Namen E.T.A. Hoffmann ins GesprĂ€ch. Musikalische Novellen." Eine nette, abendliche Runde, die ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Kunst und Wirklichkeit plaudert. Nach einer halben Seite schaltet sich ein bislang schweigsam gebliebener Professor ein. Er wolle etwas berichten, das er schon lange Jahre mit sich herumtrage und von dem er immer noch nicht wisse, ob es Erlebtes sei oder Phantasie. Und damit setzt die eigentliche ErzĂ€hlung, die hoffmanneske Geschichte des Professors ein, die in ihrem Nymphchen-Kern ebenjenes Thema verkapselte, das bei Nabokov seit den zwanziger Jahren zu keimen begann.

Folgendes ist ihr Inhalt: Der ErzĂ€hler wird in der sĂŒddeutschen Stadt, in der er studiert, zum Stammgast einer Weinstube, die ein sonderbares Bruderpaar fĂŒhrt - zwei Greise mit zerrauften rötlich-grauen VollbĂ€rten. Irgendetwas scheint diese BrĂŒder mit Spanien zu verbinden. Als der ErzĂ€hler eines Nachts an der Weinstube vorbeigeht, hört er jugendlich verwandelte zornige Stimmen, einen heftigen Streit und einen furchtbaren Angstschrei aus weiblicher Kehle. Bald darauf tritt er seine Reise nach Spanien an, wo er Lolita begegnen und der Leser die Auflösung des RĂ€tsels erfahren wird. Bevor wir auf diese Auflösung kommen, folgen wir aber noch ein letztes Mal den frĂŒhen Verpuppungen der nymphet.

Lolita hat eine weitere und weithin unbekannte VorlĂ€uferin namens Annabella - wie spĂ€ter Annabel, Humberts erste, unvergeßliche Liebe am Meer. Anabella, ein "ganz junges MĂ€dchen", wenn auch fĂŒnf Jahre Ă€lter als Lolita, wie Nabokov in einem Nachwort spĂ€ter vorsorglich bemerkt, ist eine Figur aus seinem 1938 entstandenen Drama "Die Walzer-Erfindung". Walzer, der wahnumstrickte Held, verfĂ€llt der kleinen Annabella, die durch Doppeldeutigkeiten immer wieder ins Frivole gerĂŒckt wird. Nabokovs Drama ist straff gebaut und raffiniert komponiert. Um so merkwĂŒrdiger, daß er eine Figur als reine Namensfigur einfĂŒhrt, die keinerlei Funktion hat und ĂŒberhaupt nur ein Mal erwĂ€hnt wird: ein alter graubĂ€rtiger Verwandter des Helden, angeblich das Erfinder-Genie im Hintergrund. Es handelt sich um einen Vetter gleichen Namens. In Nabokovs Annabella-Drama winkt uns also ein ominöses MĂ€nnerpaar namens Walzer zu. Und wie heißen die graubĂ€rtigen BrĂŒder in Lichbergs "Lolita"? Aloys und Anton Walzer.

Wir nĂ€hern uns dem Herzknoten des Lichbergschen Plots. Lolita ist nicht irgendein junges reizvolles MĂ€dchen. Sie unterliegt einem Fluch und dĂ€monischem Wiederholungszwang. Der ErzĂ€hler erfĂ€hrt von diesem spukhaften Hintergrund, nachdem er sich aus Furcht vor Lolitas gefĂ€hrlicher Liebe endlich doch zur Abreise entschlossen hat. Ihr Vater erzĂ€hlt von Lola, der Großmutter von Lolitas Urgroßmutter, die zu ihrer Zeit so schön gewesen sei, "daß die MĂ€nner sterben mußten, die sie liebten. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter sei sie von zweien ihrer Liebhaber, die sie bis zum Wahnsinn quĂ€lte, ermordet worden.

Fortsetzung auf der folgenden Seite.

Und seit jener Zeit liegt es wie ein Fluch ĂŒber der Familie. Immer nur eine Tochter hĂ€tten die Frauen, und immer verfielen sie einige Wochen nach der Geburt ihres Kindes in Wahnsinn. Aber alle seien sie schön - schön wie Lolita! ,Meine Frau starb so', flĂŒsterte er ernst, ,und meine Tochter wird so sterben!' Ich fand kaum Worte, ihn zu trösten, denn die Angst um meine kleine Lolita kam mit großer Macht ĂŒber mich."

In dieser Nacht wird der ErzĂ€hler Zeuge einer phantasmagorischen Mordszene. Er glaubt zu sehen, wie Lola - "oder war es doch Lolita?" - zwei Liebhaber zur Weißglut treibt und schließlich von ihnen ermordet wird. In den Mördern erkennt er die ZwillingsbrĂŒder Walzer. Am nĂ€chsten Morgen erfĂ€hrt er, daß Lolita in derselben Nacht gestorben ist. Gebrochenen Herzens verlĂ€ĂŸt er Spanien mit dem nĂ€chsten Schiff. Jahre spĂ€ter kommt er in die sĂŒddeutsche Stadt zurĂŒck, erkundigt sich nach den BrĂŒdern Walzer und erfĂ€hrt, man habe sie am Morgen nach der fatalen Nacht tot und freundlich lĂ€chelnd in ihren LehnstĂŒhlen am Ofen gefunden.

Fluch, DĂ€monie, Wiederholungszwang: davon ist auch die andere "Lolita" unterströmt. Annabel, seine erste Liebe am Meer, brennt Humbert fĂŒr immer die Lust auf die Nymphchen ein. Sie setzt ihn unter den spell, dem er nur dadurch entkommen kann, daß er Annabel in Lolita wiederauferstehen lĂ€ĂŸt. Zugespitzt gesagt, handelt Nabokovs Roman nicht von PĂ€dophilie, sondern von DĂ€monie. Nicht nur Humbert fĂŒhlt sich vom Teufel gefoppt und unterliegt einem erotisch-dĂ€monischen Zwang. Lolita selbst ist, nach seiner unmißverstĂ€ndlichen Definition, ein "unsterblicher DĂ€mon, verkleidet als Kind".

Bei Lichberg gibt es ĂŒber die andauernde Wirkung des Liebesbanns sogar eine genaue Zeitangabe. Als der ErzĂ€hler sich von Lolita trennt, beißt sie ihn mit der ganzen Kraft ihres kleinen Mundes in die Hand. "Diese Narben der Liebe", gesteht er seinen Zuhörern, "haben selbst fĂŒnfundzwanzig Jahre nicht auszulöschen vermocht." Eine Zeitangabe finden wir auch, als Humbert zum ersten Mal in Lolita seine wiederverkörperte erste Liebe erblickt: "Die fĂŒnfundzwanzig Jahre, die ich seitdem durchlebt hatte, liefen in einer zitternden Spitze zusammen und entschwanden." Auch bei ihm hat ein Vierteljahrhundert nichts löschen können vom Zauber des ersten Liebesfluchs. Und das Muster - es ist das Muster aller Geschichten von Liebe und Tod - setzt sich fort. Was sich ĂŒber die Zeiten hinweg zwanghaft wiederholt, wird immer wieder gewaltsam aufgelöst.

Lichbergs ErzĂ€hlung mĂŒndet in die traumartige Szene eines dramatischen, grotesken Mordes. Auch bei Nabokov ist das berĂŒhmte Finale eine traumartige Mordszene. Humbert und Clare Quilty, die beiden Liebhaber Lolitas, verschmelzen in dieser Szene zu Zwillingen. Wenn es Humbert schließlich gelingt, den Widerling zu töten, der sein Alter ego ist, hat er damit sein eigenes Ende besiegelt. Wenige Wochen spĂ€ter ist auch Humbert, der tragische Satyr, ein toter Mann.

In Lichbergs ErzĂ€hlung ist das Mordopfer nicht der Nebenbuhler, sondern die Frau. Mit dieser Variante spielt auch Nabokov immer wieder. Noch bei seinem Abschied von Lolita kokettiert Humbert damit, daß er seinen Revolver zĂŒcken und eine Torheit begehen könnte. Bekanntlich bleibt dieses Ende Lolita erspart. Indirekt aber scheint der Fluch aus Lichbergs Werk weiter auszustrahlen. Lola wird kurz nach der Geburt ihrer Tochter ermordet. Lolita stirbt im Wochenbett nach der Geburt eines totes MĂ€dchens.

Am 30. Januar 1933 wurde Hitler in Berlin zum Reichskanzler gewĂ€hlt. Am Abend dieses schwarzen Tages wird der Fackelmarsch zum Reichstag in einer landesweit ausgestrahlten Radiosendung ergriffen kommentiert. Einer der beiden Radioreporter ist Heinz von Lichberg. Daß der dem FĂŒhrer huldigende Schöpfer der ersten Lolita auf diese indirekte Weise jene Lolita befördert hat, die ohne Nabokovs zweites Exil und den amerikanischen Hintergrund nie hĂ€tte entstehen können, ist eine jener bizarren Pointen, die direkt aus einem Nabokov-Roman stammen könnten. Bald darauf wird Lichberg in die Schriftleitung des "Völkischen Beobachters" berufen. 1935 veröffentlicht er den in New York spielenden Roman "Nantucket-Feuerschiff", das letzte von ihm veröffentlichte Buch. 1937, im selben Jahr, in dem Nabokov Deutschland verlĂ€ĂŸt, verabschiedet sich Lichberg von seinem Publikum. Am 19. Dezember 1937 erscheint noch ein letzter Artikel von ihm im "Berliner Lokal-Anzeiger", in dem er spĂŒrbar gereizt der Bitte des Schriftleiters folgt, einen Wunschzettel fĂŒr Weihnachten auszufĂŒllen: "Sehen Sie - wir Menschen laufen doch alle mit WunschtrĂ€umen rum, die wir in der geheimsten Kammer unseres Herzens verschließen, und die tippt Ihnen doch keiner auf die durchschossene Seite. Oder glauben Sie, einer erzĂ€hlt Ihnen, daß er innerlich von der Sehnsucht nach einem bestimmten Lottchen oder Annchen völlig zernagt ist?"

Auch wenn man nicht an die Namensspiele denkt, die Nabokov spĂ€ter mit Lolita und Lotte treiben wird - die geheime, nagende Sehnsucht nach Lottchen gibt diesem Abschiedsartikel fast etwas Symbolisches. Heinz von Lichberg zieht sich aus der Öffentlichkeit zurĂŒck und macht Karriere in der Wehrmacht. 1943 ist er im Oberkommando der Abwehr, er kommt nach Polen und nach Paris. 1946 wird er aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen. 1951 stirbt er, "Oberstleutnant außer Dienst und Schriftsteller", wie das Adelsverzeichnis vermerkt, kinderlos in LĂŒbeck, wo er noch kleinere BeitrĂ€ge fĂŒr die Lokalpresse verfaßt hatte. Seine Frau, mit der er seit 1921 verheiratet war, erlebte die sechziger Jahre noch. Es ist eine kuriose Vorstellung, daß sich bei ihr, als der Hurrikan Lolita ĂŒber die Vereinigten Staaten zog und von dort zurĂŒck nach Europa raste, eine schwache Erinnerung an das Jugendwerk ihres Gatten geregt haben könnte. Lolita... Kam ihr das nicht bekannt vor?

FĂŒr den ersten Hinweis auf Heinz von Lichbergs ErzĂ€hlungen dankt der Autor herzlich Herrn Rainer Schelling.

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