Vladimir Nabokov

NABOKV-L post 0005589, Sat, 11 Nov 2000 13:59:13 -0800

Subject
review of Michael Maars essay collection
Date
Body
literaturkritik.de Nr. 11 - November 1999

Tanzende Buchstaben im Nachmittagslicht
Michael Maars neue Essaysammlung "Die falsche Madeleine"
Von Oliver Jahn

Vladimir Nabokov, Marcel Proust und all die andern hätten sich, so darf man
vermuten, ĂĽber einen Leser wie ihn gefreut. Einen, der nicht mit groĂźer
Geste in die weitläufigen Wohnzimmer ihrer Werke hineingeplatzt kommt und
lauthals jubelnd jene abgeschmackten Plattheiten ĂĽber die reiche Pracht
ihrer Ausstattung zum Besten gibt, die die Interpreten unter den Spatzen
längst von allen Dächern pfeifen. Sie hätten sich gefreut über einen Leser
wie Michael Maar. Wo manch anderer in den fein möblierten Salons sich flezt,
die mitunter kostbaren Gobelins an den Wänden bestaunt und mit wissendem
Lächeln einem Kollegen am andern Ende der Tafel zuzwinkert, streicht Maar
lieber auf eigene Faust durch die hinteren Räume.

Unbemerkt linst er in der Küche den Köchen über die Schulter, neugierig
besonders das Gewürzbord im Blick, beobachtet wie´s gemacht wird, das
opulente Mahl. Und ob´s gelingt oder nicht, entscheidet mitunter eine bloße
Messerspitze. Auch in die undurchsichtigen Kellergewölbe treibt es ihn immer
wieder, in entlegene Abstellkammern und auf spinnwebverhangene Dachböden
voller GerĂĽmpel und tanzender Staubflocken im Nachmittagslicht.

Was er auf diesen heimlichen Wegen aufgelesen und abgelauscht hat, all diese
kleinen geheimnisvollen Trouvaillen, die er da aus seiner Trommel fischt,
weisen ĂĽber sich hinaus und entdecken dem aufmerksamen Betrachter gerne eben
jene untergründigen Zusammenhänge, die im Besuchergedrängel oben in der bel
etage gerade nicht zu bekommen sind.

Es ist gar nicht möglich, auf kleiner Fläche all die Fundsachen
auszubreiten, die Maar aus den BĂĽcher- und Lebenswelten Virginia Woolfs,
Prousts, Nabokovs, Thomas Manns und anderer zusammengetragen hat. Proust und
Nabokov sind es vor allem, die er immer wieder unter sein Vergrößerungsglas
hält. Zunächst am ganz Handwerklich-Konkreten interessiert, handelt er - die
Zimmersche (Falter-) Chronik in der Hand - von der gar nicht flatterhaften
Schmetterlingsliebe dessen, der nicht nur das listenreiche Naturspiel der
Mimikry auf sein Schreiben zu ĂĽbertragen wuĂźte. In besonderem MaĂźe die
präzise Beobachtungsgabe des Naturwissenschaftlers sollte Vladimir Nabokov,
der die bloĂź phrasierte Bewegung verabscheute, zur
ausgeklĂĽgelt-feingliedrigen Konstruktion seiner Romane verhelfen. Einer
arabeskenhaften LeichtfĂĽĂźigkeit wohlgemerkt, der man ihre raffinierte
Choreographie nur Schritt fĂĽr Schritt abschauen kann.

Einem solchen Falter mag Nabokov mehr als einmal nachgeschaut haben, einen
Himmel im Blick, der immer auch - so weist Maar ĂĽberzeugend nach - seine
metaphysischen Dimensionen besaĂź. Jeder Seite ihres Mannes, so bekannte
einst seine Frau Véra, sei das Wasserzeichen der ´anderen Welt´, des
Jenseitigen eingeschrieben. In geheimer Verwandtschaft zu dessen
Überlegungen über Zeit und Kausalität teilt Nabokov mit Arthur Schopenhauer
zwar nicht die pessimistische Weltsicht, wohl aber denselben
Metaphernvorrat. Von den Romanen der 30er und 40er Jahre an, von der
"Einladung zur Enthauptung", dem "Sebastian Knight" ĂĽber das
"Bastardzeichen" und die "Lolita" noch bis zu den späten "Schwestern Vane"
und den "Durchsichtigen Dingen" zwingt Nabokov dieses Jenseits, aus dem ihm,
so glaubte er, der frĂĽh ermordete Vater die Feder gefĂĽhrt habe, ins Wort. Ob
er dabei an das "Loch in der Welt" gedacht haben mag, in das der von ihm so
bewunderte Gilbert Keith Chesterton sein unwiderstehliches Credo einzupassen
verstand, bleibt nur Vermutung.

Offensichtlich dagegen erscheint das Augenzwinkern, mit dem der
Lepidepterologe jenen französischen Kollegen bedachte, den er als einen der
wenigen neben sich gelten ließ. Ein "Catteleyaschwärmer", eine "Sphinx
d´Odette", gar die Spezies der "Madeleinea lolita" buchstabieren eine seiner
zahlreichen GruĂźadressen an Marcel Proust.

Auch dem Verfasser der "Recherche" widmet Maar einige Arbeiten. Aus einer
Briefstelle Prousts ĂĽber den Tod des geliebten Chauffeurs Alfred Agostinelli
etwa, der bekanntermaĂźen der Albertine seines Romans wesentliche ZĂĽge lieh,
entnimmt Maar die Anspielung auf ein rätselhaftes früheres Modell. Ein
anderer Essay über die frühe Reise Prousts nach dem Engadin, ein ominöser
Zusatz im Gästebuch einer einsamen Berghütte, bietet Maar die Gelegenheit,
das Buchstabenrätsel mit jener Ur-Albertine in Verbindung zu bringen.

Nicht nur von Proust und Nabokov ist aber die Rede. Hellsichtige
Überlegungen gelten der Hölle des erblindeten Religionspädagogen John Hull,
dem mit dem Augenlicht die Welt und irgendwann fast das eigene Ich abhanden
zu kommen drohten. Einer Hölle, so zeigt Maar, der nicht unähnlich, in der
Jan Philipp Reemtsma ĂĽber einen Monat untergebracht war.

Verbindungslinien solcher Art deuten sich an zwischen den kleinen Fehlern,
vor denen offenbar selbst die GroĂźen nicht gefeit sind, wenn bei der Woolf
plötzlich die Kleiderfarbe wechselt, bei Joyce eine Fliege durch eine
Krawatte vertauscht wird oder bei Proust das blonde Haar seines Marcel sich
unversehens schwarz verfärbt.

Ăśberhaupt sind die zart gewebten VerweisungsbezĂĽge hervorzuheben, die hinter
all der Kleinteiligkeit und Vereinzelung den literarischen Kosmos ahnen
lassen, in dem sich Maar heimisch fĂĽhlt und dem doch alles entspringt. Er
schätzt die motivische Anbahnung eines Themas, die über Abfolge und
Zusammenstellung der einzelnen StĂĽcke entscheidet. Ob es, wie im Essay ĂĽber
Fabre, der Falter auf dem HandrĂĽcken eines Kindes ist, der sich mit
umgeschlagener Seite im Eingang der nächsten Arbeit niederläßt, ob das
Mondlicht jener geheimnisvollen Mondrunen aus dem Tolkienporträt, unter das
er die späten Essays Thomas Manns rückt und das auf wundersame Weise auch
zwischen den Wolken eines frĂĽhen Nabokov-Romans durchbricht, ob der Tod von
Tolkiens Mutter, die genauso durch Mittelerde geistert wie die Mutter des
kleinen Marcel durch das proustische Venedig. Es sind dergleichen
ausgestreute Motive (und zahlreiche andere mehr), die all die pointierten
Einzelbeobachtungen weit hinausheben über das Tagesgeschäft des Kritikers,
hinauf in die geheimnisvolle Dachbodenwelt tanzender Buchstaben im
Nachmittagslicht, wo all die wunderbaren Leser wohnen.

Michael Maar: Die falsche Madeleine.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1999.
136 Seiten, 34 DM.
ISBN: 3518410709

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